Naturraumkunde - Naturräumliche Eigenheiten des nordmitteleuropäischen Tieflandes als der unmittelbare Geltungsbereich des Erkundungsverfahrens

Das in diesem Buch darzustellende Verfahren der Naturraumerkundung wurde an der Naturraumregion "nordmitteleuropäisches Tiefland", entwickelt. Das nordmitteleuropäische Tiefland ist der vom nordischen Inlandeis stammende während des Eiszeitalters entstandene breite Lockersedimentsgürtel um die südliche Ostsee und Nordsee. Engeres Arbeitsgebiet ist das nordostdeutsche Tiefland, ein durch politische Grenzen (Staatsgrenze nach Polen, Bundeslandgrenzen nach Westen) bestimmter Ausschnitt aus der Naturraumregion.

Die Methode der Naturraumerkundung und ihre Interpretation gelten uneingeschränkt für die ganze Naturraumregion, die Ergebnisse der Naturrauminventur zunächst für das nordostdeutsche Tiefland. Ihr Geltungsbereich kann aber über den politisch begrenzten Ausschnitt hinaus in das nordwestdeutsche und das nordpolnische Tiefland ausgeweitet werden. Zu dieser Erkenntnis haben besonders A. Kowalkowski, Kielce und H. Wachter, Wolfenbüttel beigetragen. Für das litauische Tiefland ist die Auswertbarkeit nach eigner durch M. Vaicies vermittelter Anschauung gesichert, für weitere Teile im Osten der Naturraumregion (Lettland, Estland, Weißrusslands und westliche Teile Russlands) ist sie zu erwarten. Gleiches gilt für Dänemark und den zur Naturraumregion gehörenden Teil der östlichen Niederlande. Bei allen Ausweitungen bleibt ein Grundbestand an Naturraumtypen gültig. Es kommen aber auch neue Typen hinzu, besonders beim Klima als Großklimabereiche.

Aus der Entstehungsgeschichte der Naturraumregion erwachsen einige Eigenheiten, die das nordmitteleuropäische Tiefland von anderen Naturraumregionen unterscheidet. Das geologische Ausgangssubstrat ist in seinem lithologischen und stratigraphischen Spektrum zwar verhältnismäßig schmal, denn es setzt sich aus Lockersedimenten einer einzigen Formation zusammen.

Dennoch ist es räumlich in sich durch die Unterschiede zwischen Jung- und Altmoränengebiet und innerhalb dieser Altersstufen durch die Unterschiede innerhalb der glazialen Serie sowie durch ein Netzwerk holozäner Sedimente im Binnenland und durch holozäne Küstensedimente mannigfaltig gegliedert.

Ähnlich sind die Eigenheiten beim Relief: Es bleibt zwar einheitlich unterhalb der 200 m-Schwelle. Innerhalb dieser Spanne ist es jedoch aus den gleichen Ursachen wie das geologische Substrat reich gegliedert.

Diese Mannigfaltigkeit wird verstärkt durch einen großen Flächenanteil grundwassernaher Naturräume. Die beim Substrat, Relief und Grundwasser noch eingeschränkte Mannigfaltigkeit kombiniert sich bei den Böden vielfach zu einer besonders ausgeprägten Mannigfaltigkeit. Das gilt z.B. für die Bodenmosaike der grundwassernahen Talsandteile, der Grund- und Endmoränen. Daneben kommen aber auch ziemlich einförmige.

Bodenmosaike vor, so in den grundwasserfernen Talsandteilen und den moränenfernen Sandern. Beim Substrat, Relief, Grundwasser und Boden erhöhen anthropogene Eingriffe die Mannigfaltigkeit erheblich.

Das Großklima des nordmitteleuropäischen Tieflandes ist relativ einförmig. Es ändert sich nur über große Entfernungen hinweg. Innerhalb der Großklimabereiche kommen aber, vor allem bei bewegteren Reliefmosaiken, erhebliche relief- und bodenbedingte Modifikationen vor.

Die natürliche Vegetation der mineralisch-terrestrischen Naturräume ist bis auf kleinflächige Besonderheiten überall Wald. Bei den wachsenden unentwässerten Mooren sind vorwiegend Riede, Röhrichte und moosbeherrschte Gesellschaften die natürliche Vegetation. Wald ist heute noch auf reichlich einem Viertel der Fläche zu finden, davon aber nur zu einem kleinen Teil mit naturnaher Zusammensetzung. Der Anteil der Moore in natürlichem Zustand ist noch geringer. Die Hauptfläche wird von einer nach Richtung und Grad abgewandelten Vegetation eingenommen.

Diese Eigenheiten müssen bei der Naturraumerkundung bedacht werden ohne freilich zu vergessen, dass die gleichen Grundsätze auch außerhalb des nordmitteleuropäischen Tieflandes anwendbar sein müssen.

Das nordmitteleuropäische Tiefland ist, politisch - historisch bedingt aber auch durch naturräumliche Gunst gefördert, der Lebensraum einer hoch entwickelten Industriegesellschaft. Damit verbunden ist eine allgemein hohe Beanspruchung der Naturraumpotenziale in vielerlei Richtung.

Beanspruchungen der Naturraumpotenziale in wesentlichem Grad setzen schon im Neolithikum ein. Die erste war eine ungeheure Entwaldung, die zu einem Rückgang von ehemals rund ... % der Landnaturräume (oder ... % der Gesamtfläche einschließlich der Offengewässer) bis zu gegenwärtig ... % geführt hat. Eine der deutlichsten Folgen war die Auenlehmablagerung in den Flussauen aus dem Oberbodensubstrat der frühen Ackerfluren nach der Waldrodung. Die Folgen für die chemischen und physikalischen (klimatischen) Eigenschaften der Lufthülle, vor allem in ihren bodennahen Teilen, kann man nur erahnen; nach allem, was man heute über den Einfluss des Waldes z.B. auf den Kohlenstoffhaushalt weiß, müssen die Folgen der Entwaldung groß gewesen sein. Andererseits hat die Entwaldung die Vegetationsvielfalt durch Einwandern von Elementen der natürlichen Offenlandvegetation stark erhöht.

Ein zweiter den Naturraum gewaltig beanspruchender Eingriff des Menschen war die Umgestaltung des natürlichen Wasserhaushaltes, die in unserer Naturraumregion - im Vergleich zu den Hochkulturen des Altertums recht spät – im Mittelalter einsetzte. Nach einer Zeit örtlichen Wasserrückhaltes in Fließgewässern durch Mühlenstau mit Ausstrahlung auf benachbarte Grundwässer setzte vom 12. Jahrhundert an eine flächenhafte Entwässerung der hydromorphen Naturräume zur Erweiterung der landwirtschaftlichen Nutzfläche ein, verbunden mit dem Ausbau der Binnenwasserstraßen. Gegenwärtig findet man nur noch kleinflächig Böden, die nicht erheblich entwässert sind. Bei den Mooren ist der Anteil unentwässerter nur rund ... %.

Eine weitere radikaler werdende Beanspruchung des Naturraums ist die Bebauung, besonders die versiegelnde Bebauung. Bei versiegelnder Bebauung ist der natürliche Wasser- und Stoffkreislauf extrem gestört. Die Bebauung beginnt erst spät, etwa vom 19. Jahrhundert an, landschaftsökologisch wesentliche Ausmaße zu erreichen. Heute, wo z.B. in Deutschland ...% der Bevölkerung in Städten lebt, erreicht die Bebauung bedrohliche Ausmaße. In dem deutschen Teil unserer Naturraumregion z.B. macht der durch Siedlung, Verkehr, Deponien und Industrie dem normalen Naturhaushalt entzogene Flächenanteil bereits 12 % aus und hat durch Raumverschwendung steigende Tendenz. Erschwerend kommt hinzu, dass versiegelnde Bebauung, ausgehend von mittelalterlichen Siedlungskernen, sich in den gefährdeten hydromorphen Naturräumen konzentriert. Das war im Mittelalter eine kluge Naturraumanpassung; denn hier hatte man am leichtesten Zugang zum Wasser.

Etwa vom 19. Jahrhundert an wird die Beanspruchung durch Bebauung zunehmend verschärft durch Fremdstoffemission aus der aufblühenden Industrieproduktion in Verbindung mit Fortschritten des Bergbaus. Hinzu kommt mit Einführung industriemäßiger Agrarproduktion seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Überlastung des Naturraums mit Agrochemikalien und durch Emission übermäßiger Stickstoffmengen aus der massierten Tierhaltung. Die Folgen zeigen sich gegenwärtig in einer fremdstoffüberladenen Lufthülle und in fremdstoffüberlasteten Oberbodenzuständen in ungeheurem Flächenausmaß. Gefördert durch weltweiten Waldrückgang könnte die weit über dem natürlichen Niveau liegende Energieerzeugung zu einem Klimawandel führen, der für den Wasser- und Wärmehaushalt und damit auch für die Vegetation unserer, nur wenig über dem Meeresspiegel und im starken Klimagefälle - von kontinental zu maritim und von subarktisch zu mediterran - liegenden Naturraumregion schwerwiegende Folgen haben könnte.

Neben diesen Naturraumbeanspruchungen nimmt sich die Verarmung der natürlichen Vegetationsvielfalt hin zu einem großen Anteil von Monokulturen in allen Zweigen der Pflanzenproduktion relativ bescheiden aus. Zudem bahnt sich ein Wandel an. Z.B. ist in den bewaldeten, auf Deutschland fallenden Arealteilen der Naturraumregion – den Unterlagen der forstlichen Planungsstellen nach – schon mittelfristig mit einem wesentlichen Rückgang der Nadelbaumreinbestände zu rechnen.